Textatelier
BLOG vom: 11.05.2005

Zur Toleranz: Wo ein Wille ist, ist ein Weg, mein Weg

Autor: Emil Baschnonga

Der Blog-Titel vom 9. Mai 2005 „Geöffnete Bücher, offene Menschen“ hat mich zu diesem Tagebuchblatt angestossen, abgestützt auf einen vor Jahren geschriebenen Kurzessay, der jetzt zum Blog umgegossen wird.

Damals – lang ists her – war ich beeindruckt von der englischen Toleranz. Die Leute kamen miteinander bestens aus, indem sie aneinander vorbeigingen mit einem automatischen „How do you do?“ Fixe Standpunkte wurden eher selten bezogen. Das Wetter war ein harmloses Allerweltsthema. Die Politik wurde höchstens am Rande gestreift. In anderen Worten: Man trat sich nicht zu nahe.

Heute treten die Engländer einander auf die Zehen, wie anderswo auch, vielleicht noch härter. Ich meine, das hat viel mit dem oft zitierten „Stress“ zu tun, der Alltagshetze, welche die einst gemächliche, rücksichtsvolle Gangart des Engländers aus dem Schritt gebracht hat.

Mein Essay begann mit der Feststellung: „Wo ein Wille, ist ein Weg, mein Weg.” Diese Ansicht ist der Knotenpunkt aller Ärgernisse, bis es kracht und splittert, funkt und stiebt. Der Schrecken des Schauerkabinetts „Welt“ wäre um vieles gemildert, gäbe es mehr Beispiele und Vorbilder von angewandter Toleranz und weniger des festgenagelten Eigensinns.

Nein, die Grossmut ist nicht ausgestorben. Sie lebt und gedeiht herrlich, allein auf sich selbst bezogen. Dabei werden andere nicht mehr in sie einbezogen. Dies zeigt sich wohl am deutlichsten auf den Strassen. Ungeduldig drängelt der Fahrer hinter mir bis dicht an die hintere Stossstange, blinkt oder hupt sogar. Ich schlucke meinen Ärger, denn eine Konfrontation kann, wie man von „road rage“-Vorfällen weiss, lebensgefährlich sein. Wenn es geht, weiche ich zur Seite und lasse ihn an mir vorbeiflitzen.

Dabei springt mir William Hogarth, der „englische Honoré Daumier“ bei. Sein Stich „The enraged Musician“ aus dem Jahr 1741 zeigt einen Geigenspieler, wie er hilflos am Fenster stehend sich beide Ohren zuhält, vom Strassenlärm zur Grenze des Wahnsinns getrieben: dem Messerschleifer, den Marktschreiern, Musikanten, dem kläffenden Hund, der Kinderrassel usf. In seiner Rage hätte er heute wohl seinen Violinbogen als Degen eingesetzt und blindlings zugestochen.

Früher war das Verkehrschaos nicht besser. In engen Strassen wurden Karren herum und aneinander gestossen, Pferdekutschen versperrten den Weg, der Fussgänger musste Rossäpfeln und anderem Fallobst, Tümpeln und Schlaglöchern ausweichen. Aber alle kamen schliesslich irgendwie zurecht und brauchten keine Strassenampeln, Parkbussen und Hunderte von anderen Schikanen und Garnituren von Verbotstafeln.

Der Arbeitsweg, ob mit dem Auto oder in den öffentlichen Transportmitteln, beginnt immer früher, und der Arbeitstag wird immer länger. Vor Jahren wurde uns die Welt einer Freizeitgesellschaft vorgegaukelt. Daraus ist nichts geworden. Ich war damals ein richtiger Schlendrian, gewiss keine Ausnahme, erschien oft erst nach 9 Uhr im Büro. Genau wie die „tea lady“ ihre erste Runde machte, las ich zuerst in Ruhe meine Zeitung zu Ende, ehe ich die Arbeit anpackte. Im Nu war Mittagszeit, und ich hatte eine gute Stunde Zeit fürs Mittagessen. War ich in Paris, erstreckte sich das Mittagessen über 2 Stunden. In Madrid kam es obendrein noch zur Siesta . . . Wie es heute zu und her geht, brauche ich nicht zu beschreiben. Vom Gedanken allein kriegt man einen Magenkrampf.

Mit der Zeit wurde damals recht tolerant umgegangen, was der Lebensqualität wohl bekam. Jetzt geht es scheusslich hart zu und her im Lebenskampf. Dafür nimmt sich der Mensch jetzt viel zu viel seiner Zeit, macht zwangsläufig Überstunden, treibt Raubbau an seiner Gesundheit. Einerseits muss sich der Mensch vor anderen absichern, die es ausgerechnet auf seine Stelle abgesehen haben, und anderseits ist er als Konsument überverpflichtet, damit er im Vergleich mit andern nicht ins Hintertreffen gerate.

Lohnt sich das? Ich glaube kaum. Schliesslich kann man nur in einem Bett auf einmal schlafen, keine 2 Mahlzeiten auf einmal essen, noch mit dem ersten und dem Zweitauto zugleich fahren. Auch mehrere Bücher lassen sich nicht gleichzeitig verschlingen. Der springende Punkt ist erreicht: das gute offene Buch, das den Weg zur Toleranz weist und erst noch unterhält.

Bitte zupacken: das kostet wenig, aber ist viel wert. Ich kann dabei erst noch meine Augen heben, von einem Gedanken angestossen. Genauso, wie mir heute geschah.

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